Über Vergangenheit …


Verfasst am Februar 2nd, von Frieder in Frieders Blog. 1 Comment

Über Vergangenheit …

Es war einige Tage vor meinem sechzehnten Geburtstag. Meinen Ausweis hatte ich bereits beantragt, damals war das noch ein kleines graues Büchlein. Meine Eltern wussten nichts.

Ich bin im November geboren, und so stand der Winter bevor. Der Schlafsack, den ich für vierzig Mark im PEP-Einkaufszentrum gekauft hatte, taugte nichts, wie ich später feststellte. Auch das kleine Party-Licht, das ich aus unserem Keller geklaut hatte, war nicht geeignet, in einer verschneiten Nacht auf einer Wiese in der Schweiz den ebenfalls geklauten Rotwein zu erwärmen. Dabei hätte ich bei all den Minusgraden ein bisschen Wärme gut gebrauchen können.

Ich war nachts im Keller gewesen und hatte heimlich ein paar Konserven und Dosenfisch in die Satteltaschen gepackt, dann alles wieder versteckt. Ich entschied mich für das alte Triumph-Fahrrad meiner Mutter, es kam mir am stabilsten vor. Ich kletterte also über die Fassade die drei Stockwerke wieder nach oben und stieg durch das vom Hagelschlag zerstörte Dachfenster in unsere Wohnung ein. Meine Hände bluteten, aber ich spürte nichts. Meine kleine Schwester schlief im Bett neben mir, und obwohl sie der wichtigste Mensch in meinem Leben war, wusste auch sie von nichts.

Und dann gab es noch den Russen Andrej, ein Außenseiter wie ich, die Polizei muss ihn ziemlich rangenommen haben, denn er hatte mich als letztes gesehen, in der U-Bahn-Station. Als ich am Hauptbahnhof in den Zug stieg, war es bereits halb acht früh, meine Mutter musste es also schon bemerkt haben. Das alte Triumph-Fahrrad aber wartete in Lindau auf mich, ich bepackte es und stieg auf.

Warum ein halbes Kind, so wie ich es damals war, so etwas macht? Wut? Verzweiflung? Abenteuerlust? Die ersten Nächte waren die schlimmsten, überall war Schnee, das Fahrrad war völlig überpackt, meine Geldvorräte waren nach zwei Tassen heiße Schokolade halb aufgebraucht.

Zwei Tage später traf ich König Parzival, der mich überredete, meine Pläne mit Portugal fallen zu lassen und ihn als sein Schüler auf seiner Mission zu den Bahai nach Israel zu begleiten. Ich sagte sofort ja, er warf mein Fisch-Dosen-Proviant in den nächsten Müllkontainer und ich verdiente mit “über den Wolken” meine ersten 200 Schilling auf dem Bregenzer Christkindlmarkt. Parzival nannte mich von da an “Arieto”, was in seiner Sprache “kleine Melodie” hieß.

Wir überquerten also mitten im Dezember mit unseren Fahrrädern die Alpen, und das einzige, was mich nervös machte, war, dass Parzival die gesamte Lokalpresse Südtirols über seine Friedensmission und seinen ersten Schüler berichten ließ. Immerhin kamen wir so hin und wieder zu etwas komfortableren Nächten in kleinen Hotels.

In Verona kaufte ich mir mein erstes Beatles-Song-Book, einen Walkman und Bongos, von da an standen die italienischen Mädchen Schlange. Ich beschloss also, Parzival zu verlassen, um Weihnachten in Carara zu verbringen. Wieder eine Woche radeln, meine Ernährung bestand aus Milch und Zucker.

Aber auch in Carara schneite es, in Florenz, in Livorno, wo ich bei einem ausgeflippten Bauern Holz schlug und Freundschaft mit seinem Hund schloss. Also brach ich Ende Januar wieder auf, mit einer fransigen Ledertasche, drei dicken Wollpullis und einer Gitarre. Die Autobahnen Südfrankreichs können endlos sein, der Wind kalt, und die Monate auf der Straße hatten auch bei mir Spuren hinterlassen. Aus den italienischen Mädchen wurden französische Schwule, die ihr Bett auf eine andere Art und Weise mit mir teilen wollten. Die Polizei gab immer öfter meine Ausweisnummer in den Computer ein, bis in einem kleinen Ort an der spanischen Grenze die Interpol ihre Informationen ausspuckte.

Ich hätte mich fangen lassen, behauptet meine Mutter bis heute, weil ich einfach nicht mehr konnte. Damit mag sie Recht haben, aber weg von daheim bin ich wohl aus dem gleichen Grund. Ich habe das Bild wie ein Foto in meinem Kopf, der Provinzbahnhof und der leere Bahnsteig, der französische Sozialarbeiter neben mir, meine Mutter ein paar Meter vor mir, will auf mich zukommen, mich umarmen, ich will nicht. Dann die weite, öde südfranzösische Ebene, die Tränen in meinem Gesicht, die so viele waren, dass auch der Fahrtwind sie nicht unsichtbar machen konnte. Meine Mutter sah mich kurz an, dann kehrte sie schweigend ins Abteil zurück.

Und ich bin natürlich wieder einmal von der Schule geflogen, aber da wohnte ich schon bei meinem Vater, der kriegte mich irgendwo in Schwabing in einer dritten Schule unter. Ich hatte meine ersten Erfahrungen mit Drogen und lernte meine erste große Liebe kennen. Und dann warf ich alles hin, wollte Pop-Star werden und gründete eine eigene Band.

Meine Mutter ließ meine fünf anderen Geschwister allein und ging erst zu Bhagwan nach Oregon und dann in die Psychiatrie. Heute arbeitet sie als Psychologin in einem Kinderhaus. Meine kleine Schwester wurde drogensüchtig und zog zu mir, bis Steff mich verließ und mit meiner Schwester in die Ackermannstraße zog. Zu meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag schenkte mir meine Mutter eine Therapie bei ihrem Lieblingstherapeuten, um meine Erziehung abzurunden, so wie sie es ausdrückte.





Ein Kommentar zu “Über Vergangenheit …”

  1. Barbara sagt:

    Lieber Frieder,
    vielen Dank für diesen wunderbaren Text. Das ist wirklich eine sehr bewegende Geschichte …Erstaunlichen Mut hattest Du da, in so jungen Jahren! Ich hätte mich das nicht getraut, obwohl ich weiß, dass man so jung oft gar nicht abschätzen kann, was welche Konsequenzen hat. Eine kleine Revoluzzerin war ich schon auch, draussen auf dem Land in meiner kleinen Welt – aber nicht so. Gut, dass Du nicht verloren gegegangen bist!
    Grüße! :-) Barbara

Hinterlasse eine Antwort



NEWS

Immer dranbleiben! Hier findet Ihr die neuesten Infos zu Frieder Wolff mit Band über Konzerte, seine Musik und vieles mehr.

Buch veröffentlicht: Die Maus, die im Türstock krabbelt

500 Kilometer zu Fuß durch die Türkei bin ich gegangen – das alles und noch viel mehr könnt ... Weiter »

500 Kilometer zu Fuß durch die Türkei

Nachdem auch heute mein Knie gehalten hat, habe ich absolut alles aus meinem Rucksack geworfen (inklusive aller Hygieneartikel, ... Weiter »

Neue EP mit vier Song – Download umsonst :-)

Hallo Freunde und Fans, nach zwei Monaten Arbeit und intensivem, aber auch sehr schönem Ringen um den ... Weiter »

Singer-Songwriter-Rotation #1 @ Stragula

Gemeinsam mit zwei anderen Münchner Sangeskünstlern trete ich an diesem Samstagabend auf der Bühne des Stragula mit abwechselnden ... Weiter »

Über das Schreiben …

Nein, es geht nicht – die Dinge müssen geklärt werden! Ich sitze hier und er will ... Weiter »

Frieder Wolff im Studio bei Tobias Siegert

Mit Tobias Siegert von Minga-Records hat Frieder Wolff & Band einen neuen Partner gewonnen! Momentan wird ... Weiter »

Konzert im Club Chateau

Hey Freunde, meine vier Musiker und ich rocken am Donnerstag, den 27. 9. den Club Chateau. Das ... Weiter »